Aktuell

Großeltern müssen bei der Auswahl eines Vormunds in Betracht gezogen werden

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Bindung zu Großeltern berücksichtigt werden muss, bevor nicht verwandte Personen als Vormund eingesetzt werden.

In seiner Pressemitteilung erläuterte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung im Detail wie folgt:

Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schließt auch familiäre
Bindungen zwischen nahen Verwandten ein, insbesondere zwischen
Großeltern und ihrem Enkelkind. Dies hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss
festgestellt. Soweit tatsächlich eine engere familiäre Bindung besteht,
haben Großeltern daher ein Recht darauf, bei der Auswahl eines Vormunds
für ihr Enkelkind in Betracht gezogen werden. Ihnen kommt der Vorrang
gegenüber nicht verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall
konkrete Erkenntnisse darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes
anderweitig besser gedient ist. Die vom Bundesverfassungsgericht zu
entscheidende Verfassungsbeschwerde einer Großmutter blieb im Ergebnis
ohne Erfolg, denn das Familiengericht hatte die verfassungsrechtlichen
Anforderungen bei seiner Auswahlentscheidung hinreichend beachtet.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Eine erste Enkeltochter der Beschwerdeführerin kam 2001 zur Welt und
wurde von ihrer Mutter, der Tochter der Beschwerdeführerin, nach der
Geburt in die Obhut der Beschwerdeführerin gegeben. Im Jahr 2008 kam die
zweite Enkeltochter zur Welt und lebte, zusammen mit der Mutter,
zunächst im Haushalt der Beschwerdeführerin. Im August 2011 zog die
Mutter zu einem Freund und nahm das jüngere Kind mit sich. Im Wege der
einstweiligen Anordnung entzog das Familiengericht der Mutter im Herbst
2011 die elterliche Sorge für beide Kinder und setzte zunächst das
Jugendamt als Vormund ein. Im Dezember 2011 wechselte die jüngere
Enkeltochter in eine Pflegefamilie, in der sie bis heute lebt. Im
Hauptsacheverfahren entzog das Familiengericht der Mutter mit Beschluss
vom 8. Januar 2013 die elterliche Sorge für beide Töchter. Es bestellte
die Beschwerdeführerin zum Vormund für die ältere Tochter, für die
jüngere Tochter hingegen das Jugendamt. Die hiergegen gerichtete
Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht als unzulässig, da die
Beschwerdeführerin nicht beschwerdeberechtigt sei.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Entscheidungen des Familiengerichts und des Oberlandesgerichts
verletzen die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten.

1. Als Großmutter steht der Beschwerdeführerin aufgrund des Schutzes der
Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG ein Recht darauf zu, bei der Auswahl eines
Vormunds oder Ergänzungspflegers in Betracht gezogen zu werden.

a) Auf das Elterngrundrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) kann sich die
Beschwerdeführerin allerdings nicht berufen. Der Schutz dieses
Grundrechts steht grundsätzlich nur den Eltern des Kindes zu. Zwar legen
es das Elterngrundrecht sowie das Grundrecht des Kindes auf
Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m.
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) in der Praxis regelmäßig nahe, Großeltern auf
Wunsch der Eltern und des Kindes zum Vormund oder Ergänzungspfleger des
Enkelkindes zu bestellen. In Bezug auf Großeltern sind beide Grundrechte
indessen lediglich Rechtsreflexe, die keinen eigenen grundrechtlichen
Schutz ihrer subjektiven Interessen begründen.

b) Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG umfasst jedoch familiäre
Bindungen zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind.

aa) Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche
Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Darüber
hinaus zielt das Familiengrundrecht generell auf den Schutz spezifisch
familiärer Bindungen, wie sie auch zwischen erwachsenen
Familienmitgliedern und auch – wenngleich regelmäßig weniger ausgeprägt
– über mehrere Generationen hinweg zwischen den Mitgliedern einer
Großfamilie bestehen können. Familiäre Bindungen sind im
Selbstverständnis des Individuums regelmäßig von hoher Bedeutung und
haben im Lebensalltag der Familienmitglieder häufig besondere praktische
Relevanz.

bb) Der grundrechtliche Schutz familiärer Beziehungen zwischen nahen
Verwandten umfasst deren Recht, bei der Entscheidung über die Auswahl
eines Vormunds oder Ergänzungspflegers in Betracht gezogen zu werden,
sofern tatsächlich eine engere familiäre Bindung zum Kind besteht. Die
Vormundschaft oder Ergänzungspflegschaft ermöglicht es den Verwandten,
das Kind zu sich zu nehmen und in eigener Verantwortung zu betreuen und
zu erziehen. Auf diese Weise können sie ihre familiäre Bindung zum Kind
fortführen und verwandtschaftlicher Verantwortung gerecht werden.
Großeltern und sonstigen nahen Verwandten kommt daher bei der Auswahl
des Vormunds oder Ergänzungspflegers der Vorrang gegenüber nicht
verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse
darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes, das für die Auswahl
bestimmend ist, durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient
ist.

2. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den Anforderungen des Art. 6
Abs. 1 GG an die Berücksichtigung naher Verwandter bei der Auswahl eines
Vormunds.

a) Das Bundesverfassungsgericht überprüft die fachgerichtliche Auslegung
und Anwendung des einfachen Rechts im Ausgangsfall nach allgemeinen
Grundsätzen. Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene
Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer
grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts
oder vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen. Soweit das
Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung von Sorgerechtsentziehungen
einen strengeren Kontrollmaßstab anwendet, beruht dies auf dem
besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der Eltern-Kind-Beziehung. Die
Eingriffsintensität der hier zu überprüfenden Entscheidung bleibt
regelmäßig hinter der einer Trennung des Kindes von den Eltern zurück.

b) Die angegriffenen Entscheidungen haben die Tragweite der durch Art. 6
Abs. 1 GG geschützten Belange der Beschwerdeführerin nicht verkannt. Das
Familiengericht ist von einer besonderen Stellung der Beschwerdeführerin
bei der Auswahl des Vormundes ausgegangen und hat deren Bestellung nicht
von überzogenen Anforderungen abhängig gemacht. Es hat insbesondere
nicht angenommen, dass die Beschwerdeführerin erst dann auszuwählen
wäre, wenn dem Kindeswohl damit im Vergleich zum Verbleib in der
Pflegefamilie besser gedient wäre. Das Familiengericht ist vielmehr mit
ohne Weiteres nachvollziehbaren Erwägungen zu dem Ergebnis gelangt, dass
dem Kindeswohl bei einem Verbleib in der Pflegefamilie besser gedient
sei als bei einem Wechsel zur Beschwerdeführerin.

c) Die Beschwerdeführerin ist nicht dadurch in Grundrechten verletzt,
dass ihr die Möglichkeit der Beschwerde zum Oberlandesgericht versagt
blieb.

aa) Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht
gezwungen, nahen Verwandten gegen die durch den Familienrichter
getroffene Auswahl des Vormunds einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu
stellen. Das Grundgesetz sichert die Eröffnung des Rechtswegs,
gewährleistet jedoch keinen Rechtsweg über mehrere Instanzen hinweg.

bb) Auch die Auslegung von § 59 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren
in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen
Gerichtsbarkeit (FamFG), wonach der Beschwerdeführerin als Großmutter
hier keine Beschwerdeberechtigung zusteht, verletzt die
Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten. Nach § 59 Abs. 1 FamFG
steht die Beschwerde demjenigen zu, der durch einen Beschluss in seinen
Rechten beeinträchtigt ist. Zwar berührt die Auswahlentscheidung das
Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 1 GG. Mit Blick darauf
war sie bei der Auswahl des Vormunds vom Familiengericht auch
grundsätzlich anzuhören. Das Oberlandesgericht hat sich jedoch der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs angeschlossen, die Großeltern in
Verfahren, die die richterliche Bestellung eines Vormunds oder
Ergänzungspflegers für ihr Enkelkind zum Gegenstand haben, grundsätzlich
keine Beschwerdebefugnis einräumt. Diese Interpretation von § 59 Abs. 1
FamFG ist nicht willkürlich. Sie beruht auf nachvollziehbarer
systematischer Auslegung und trägt dem legitimen Ziel des Gesetzgebers
Rechnung, den Kreis der Beschwerdeberechtigten überschaubar zu halten,
um eine zügige Beendigung des gerichtlichen Verfahrens zu ermöglichen,
was in sorgerechtlichen Verfahren von besonderem Gewicht ist.

Quelle: www.bundesverfasssungsgericht.de

Fachanwältin für Familienrecht Christine Andrae

Über die Autorin

Rechtsanwältin Christine Andrae ist Fachanwältin für Familienrecht in Köln. Auf dieser Seite veröffentlich sie Beiträge zu familienrechtlichen Themen wie Unterhalt, Sorgerecht, Scheidung oder Umgangsrecht.

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